W: Am Anfang wabern die Dinge so herum. Irgendwann sieht man sie konkret vor sich auf dem Tisch und kann den nächsten Schritt machen. Wie funktioniert diese Konkretisierung?

L: Schreibhandwerk hat für mich mit Bewusstmachung zu tun. Man weiß, was man da tut. Während des Schreibens vergesse ich vieles davon wieder. Aber es schreibt sich von allein in den Text ein. Weil ich es mir bewusst gemacht habe.

W. Lass uns das einmal anhand unseres eigenen Stoffes zeigen. Der Ausgangspunkt war ein vages Gefühl.

Bewusstwerdung

L: Mich macht es wahnsinnig, wenn ich mit Menschen zu tun habe, die ständig jemand anderes vorgeben zu sein, als sie wirklich sind. Menschen, die sich mir emotional entziehen wie ein nasses Stück Seife. Manipulative Menschen, die ein Bild von sich abgeben, das ich ihnen erst einmal glaube. Die es schaffen, mein Vertrauen zu gewinnen – bis ich feststellen muss, denen geht es gar nicht um eine Freundschaft oder um Nähe mit mir. Denen geht es nur um ihr Ego, darum, ihr System mit dem, was ich ihnen schenke, zu speisen.

W: Du hattest ein dringliches Gefühl, dass dich diese Tatsache, diese Art von menschlichen Beziehungen, aufwühlt. An dieser Stelle war uns beiden das Thema unseres aktuellen Projektes noch lange nicht bewußt.

L: Ich will die Menschen um mich herum immer verstehen – aus welchen Gründen auch immer. Und wenn ich dann keinen Zugang zum ehrlichen Kern von jemandem finde, dann reizt mich das ungemein. Ich hege eine große Faszination für Charaktere, die andere Menschen manipulieren können, die um die Bedürfnisse und Sehnsüchte ihres Gegenübers so intuitiv Bescheid wissen.

W: Dieses Interesse an Manipulator und Täuschung seines Opfers teile ich. Aber ich habe nach einem Motiv für dieses Gefühl gesucht. Ein Motiv, das auch uns beide interessiert. Man könnte das Gefühl ja auf so viele Arten erzählen. Wie in unserem vorherigen Beitrag gesagt, suche ich nach einer Secondary Idea, die genau die gleiche kinetische Energie hat, wie das erste Gefühl. Die Idee war der Geheimdienst.

L. Jetzt materialisiert sich das als konkrete Idee oder Motiv des Geheimdienstes, der geheimdienstlicher Arbeit. Das war für mich immer die direkte Verbindungslinie zum Thema. Als jemand, der eine Quelle anwerben will, musst du Menschen lesen und für deine Zwecke manipulieren können. Es geht ja so weit, dass dieser Mensch sich in Lebensgefahr bringt, weil er zum Beispiel Geheimnisse seines Landes verrät. Man ist nicht man selbst, man ist unter der jeweiligen Legende jemand anderes. Als dieser baut man Vertrauensverhältnisse zu Zielpersonen oder eben möglichen Quellen auf. Und da geht es wieder um ganz echte Gefühle, das kann nicht vorgespielt werden. Geheimdienstleute sind keine Schauspieler. Man lebt die Legende. Diese Identität darf nicht enttarnt werden. Die Liste der Beispiele könnte ich weiter fortführen. Aber der Punkt ist ja: In dem konkreten Motiv geheimdienstlicher Arbeit finde ich das übersetzt wieder, was mich auf psychologischer Ebene in meinem Leben schon immer beschäftigt hat und beschäftigen wird.

W: Ein Gefühl hat sich in einem konkreten Motiv materialisiert. Erst einmal war da eine persönliche psychologische Dringlichkeit, die eine Übertragung in das Konkrete, ein Motiv findet: eine Institution, eine Sphäre, ein genau beschreibbares Milieu. Aus dem Ungefähren wird etwas Greifbares.

L: Ja. Und sobald das passiert, kommt eine weitere Energie ins Spiel: Wir haben beide angefangen zu recherchieren. Etwas, was ich liebe. Ich will immer auch was aus Büchern lernen. In Welten eintauchen, in denen ich was Neues verstehe. Es ist quasi eine journalistische Arbeit parallel zur literarischen, ohne, dass wir uns später an diese Fakten eins zu eins halten müssen.

Erste Recherche

W: Für mich war das immer eine Gefahr, mich an anderen zu orientieren, weil mich das manchmal auch eingeschüchtert hat. Wenn ein Werk geschrieben ist, dann ist es schwer zu glauben, dass die erste Fassung des Buches auch mal grottenschlecht war. Jedenfalls hast du wirklich sehr viele Bücher in diese Richtung gelesen, Fachbücher und Literatur. Ich habe mich mehr mit dem Spy-Genre und den Subgenres beschäftigt. Dabei sind wir auch auf eine hervorragende französische TV-Serie gestossen, die kaum einer kennt. Und dann haben wir beide das auf den Tisch gelegt, was wir wollen und was wir nicht wollen.

L: Ich wollte auf den Fluren des deutschen Auslandsgeheimdienstes erzählen. Aber ich wollte unter keinen Umständen nur im Hier und Jetzt das politische Berlin erzählen. Das spürten wir ja beide sehr genau, dass wir historisch und psychologisch genau erzählen wollten. Uns beide interessiert kein Tradecraft-Klimbim oder irgendwelche Geheimdienst-Zirkusnummern, wie John le Carré es mal ausdrückte.

W: Das war ein ziemlich langwieriger Prozess, sich jetzt wieder freizuschwimmen von den Vorbildern und Referenzen. Und zu verstehen, was man will, was das Eigene ist. Auch was das Genre bzw. Subgenre angeht, ist da erst einmal ein vages Gefühl, es muss sich konkretisieren. Mir ging es dabei vor allem um die Frage, wie man überhaupt auf eine Art vom Geheimdienst erzählt, die uns wirklich beteiligt. Erstens ohne zu „vergeheimnissen“, also etwas Rätselhaftes aufzublasen, das konstruiert ist oder einfach zu weit weg. Und zweitens, sich nicht in der üblichen eindimensionalen, meist institutionalisierten Verschwörung der Mächtigen erschöpft.

L: Wir wollten uns selbst in moralische Dilemmas bringen und damit unsere Leser und Leserinnen.

W: Gute Geschichten packen die Leser durch Involvierung, nicht durch Betrachtung oder Empörung. Wir sind beteiligt. Die Leser werden selbst durchgerüttelt. Bücher, Filme, Serien, die diesen Nachhall in mir erzeugen, die mich schmerzen und verzaubern – das hat für mich vor allem damit zu tun, dass wir beteiligt sind, weil wir sie nicht einfach verstehen können, weil nicht alles auserzählt wird. Es bleibt Raum für eigene Gefühle und Gedanken. Manches bleibt im Ungewissen, ambivalent, ist Interpretationssache. Aber nicht, weil etwas unklar ist oder man es nicht erfährt, sondern weil das Leben tatsächlich so komplex und widersprüchlich ist. So reichen diese Geschichte in eine geheimnisvolle Tiefe, die nie ganz zu durchdringen ist.

L: Vom Handwerklichen aus gesehen hat das meiner Meinung nach mit dem Grad meines Bewusstseins zu tun, was mein Thema ist, was das mit meinen Ideen zu tun hat. So dass sich jedes einzelne Teil der Geschichte – die Figuren, alle antagonistischen Kräfte, die Schauplätze, innere und äußere Landschaften etc. – daraus speisen lassen. Wir als Leserinnen und Leser spüren diese Tiefe. Wir erschließen sie uns selbst, bringen uns ein. Wir haben plötzlich als Lesende auch ein ’skin in the game‘. Deshalb finde ich es auch so spannend, in historische Ereignisse hinein zu erzählen, die langen Linien sichtbarer werden zu lassen.

W: Was wir bis jetzt haben: Ein dringliches Gefühl hat sich in ein Motiv verwandelt und das Motiv haben wir mit einem Genre verbunden. Das Genre haben wir eigenwillig modifiziert, wenn man so will. Jetzt liegen da aber noch eine ganze Anzahl weiterer Dinge herum, die du gerade erwähnt hast, und die wir damit verbinden müssen. Das machen wir beim nächsten Mal.

erwähnte Fernsehserie:

Büro der Legenden
Originaltitel: Le Bureau des Légendes

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