W: Wie kommt man als Autorin, als Autor zu einer Idee für eine Geschichte? Lass uns bei dir anfangen. Wie kommst du, Larissa, auf Ideen für deine Geschichten?
L: Meine Ideenfindung geht über Emotionen. Über das, was mich ganz tief im Inneren beschäftigt, mich aufrührt, innerlich durchrüttelt. Dem muss ich nachgehen. Um aber im nächsten Schritt aus so einer diffusen Emotion eine Idee für eine Geschichte werden zu lassen, braucht es Handwerk und die Bereitschaft, auf die eigenen Ängste zuzugehen. Man muss sich trauen, dahin zu schauen, wo es weh tut.
W: Aber das war früher anderes bei dir. Für dich gibt es zwei Phasen im Schreiben und Geschichtenerzählen. Was hast du in der Vergangenheit anders gemacht?
Blindflug
L: Ideenfindung war früher zum einen ein Blindflug. Und zum anderen die Suche nach einer Idee durch endloses Schreiben. Ich dachte, dass mir diese Texte, die ich verfasse, irgendwann die Idee quasi an die Oberfläche in mein Bewusstsein befördern würden. Und dann passierte etwas ganz anderes. Ich würde sagen, schädliches: Ich blieb an Formulierungen kleben, die mir gefielen. An Satzanfängen oder Absätzen, Kapitelüberschriften. Aus diesen Fragmenten meinte ich dann, Ideen generieren zu können. Die waren aber meistens nicht verbunden mit dem wirklichen Kern. Im schlimmsten Falle hatten die sich so hingeschrieben und klangen halt schön. Und weil ich ihnen folgte, verlor ich die Verbindung zur Idee.
W: Dein Erzählband ‚Schwalbensommer‘ ist aber aus einem Lebensgefühl entstanden.
L: Das stimmt. Die Erzählungen entstanden aus einem Gefühl grenzenloser Einsamkeit heraus. Mir und anderen entfremdet zu sein. Orientierungslos, ohne Halt.
W: Das war doch keine schlechte Voraussetzung zum Schreiben. Es enthält eine große Dringlichkeit.
L: Ja. Aber in dem Moment konnte ich das nur übersetzen in Blitzlichter des Alltags, eben in Kurzerzählungen. So diffus, wie das Gefühl war, hätte ich es nicht übersetzt bekommen, so dass es als zentrale Idee einen Roman trägt. Ich glaube, dass es für einen Roman ein anderes Bewusstsein braucht. Eine größere Klarheit, was die Idee ist. Welches Thema darin liegt. Was das mit mir zu tun hat. Und wie ich das alles schließlich übersetzen kann in Motive, eine Geschichte, einen Plot.
W: Wir halten fest, aus diffusen Ideen entsteht eher Fragmentarisches und Situatives. Ich würde gern noch mal über die Ideenfindung sprechen, und in dem Zusammenhang auch gerne fragen, ob und wie du mit sogenannten Secondary Ideas arbeitest.
Secondary Ideas
L: Definieren wir das vielleicht mal vorne weg, was mit Secondary Ideas gemeint ist.
W: Das kann einfach eine Nebenhandlung oder Nebenfigur sein. Was ich aber für die Ideenfindung wichtig finde, ist die Kombination scheinbar ungleicher oder gegensätzlicher Dinge. Zwei Billardkugeln, die auf unserem Schreibtisch aufeinanderprallen. Konkret: Der Handelsreisende und die Verwandlung in einen riesigen Käfer, die Liebesgeschichte in einem Überwachungsstaat, der Geist eines toten Kindes in einer psychologischen Geschichte über Sklaverei.
L: Wenn ich zwei Ideen, die ich cool finde, die aber im Kern unzusammengehörig sind, auf Teufel komm raus in eine Geschichte hineinzwängen will, dann kommt Konstruktion dabei raus. Ich will – um das Bild zu benutzen – die beiden Kugeln aufeinander prallen lassen. Aber die rasen durch ihre eigenen Energien einfach nur aneinander vorbei. Schlimmstenfalls fange ich dann an, so lange am Text herumzukonstruieren, bis sie irgendwie aufeinandertreffen. Aber insgesamt sorgt das für ein kaltes Verglimmen im Herzen der Geschichte. Konstruktion ist ein Energiefresser. Da lebt nichts. Da gibt es keine lebendigen Energien. Geschichten zu erzählen hat viel mit Physik zu tun, das hat John Yorke vollkommen treffend festgestellt.
W: Eine Secondary Idea sollte also mit der gleichen hohen Energie wie die Ursprungsidee ausgestattet ist. Aber wie schaffen wir es, dass sich da sozusagen physikalisch-magnetische Kräfte zwischen den zwei Billard-Kugeln entfalten, damit sie aufeinander prallen?
L: Beide Ideen müssen, wenn sie in dieser Geschichte eine Rolle spielen sollen, für mich als Autor, als Autorin diese große Bedeutung haben. Die Secondary Idea steht nicht, nur weil sie so heißt, an zweiter Stelle. Ich muss sie genauso behandeln, wie ich meine zentrale Idee behandle. Aus dem Zusammenwerfen beider Ideen kann eine Dynamik entstehen, die für’s Geschichtenerzählen von zentraler Bedeutung ist. Wenn zwei Ideen aufeinander treffen, die Energien freisetzen, dann wird die Geschichte größer, überraschender, entwickelt eine Dynamik, die sich meiner Kontrolle entzieht. Storytelling ist auch ein magischer Prozess. Es entsteht etwas, das über uns als Menschen hinaus weist, das größer ist als wir selbst. Überraschungen entstehen, Bedeutungen, Freiräume.
W: Ich würde die Secondary Idea gerne noch mal anhand von ‚Kleine Dinge wie diese‘ von Claire Keegan beleuchten. Es ist ja ein schmaler Roman, aber einer, aus dem man eine Menge über das Schreiben von Geschichten lernen kann. Keegan ist von einem gesellschaftlichen Missstand ausgegangen. Noch bis in die 1980er Jahre wurden in Irland Wäschereien von Klöstern betrieben, in denen Mädchen arbeiteten, die quasi rechtlos waren, ausgebeutet und auch misshandelt wurden. Das zum Thema zu machen, war Keegans Ausgangspunkt. Vielleicht auch, diesen namenlosen Mädchen in einem Roman noch mal ein Gesicht, eine Stimme zu geben.
L: Keegan ist eine brillante Autorin, die ihr Handwerk beherrscht. Deshalb glaube ich, sie hat die Entscheidung für die Secondary Idea bewusst getroffen. Ihre Hauptfigur hat mit der Ursprungsidee eigentlich gar nichts zu tun. Es ist ein Kohlenhändler namens Furlong. Aus handwerklicher Sicht ist das sehr geschickt. Sie hat nicht eins der Mädchen zur Hauptfigur gemacht, oder die Nonnen zur bestimmenden antagonistischen Kraft. Die Hauptfigur steht vielmehr für die Gesellschaft, also für uns. Sie wird mit dem Umstand des Missbrauchs in den klösterlichen Wäschereien konfrontiert, und das reißt ein tiefes moralisches Dilemma in ihm auf. Er ist ein sehr pflichtbewusster, integrer, aber auch furchtsamer Mensch, der seine Familie, vor allem seine Töchter, über alles liebt. Dieses Leben will er um keinen Preis gefährden. Aber es ist ihm immer weniger möglich, wegzuschauen, den Missstand zu ignorieren. Und so bricht der Konflikt, der erzählt wird, in ihm aus – in einer Figur, mit der wir uns hochgradig identifizieren können. Furlong ist ein Jedermann und je stärker er in Bezug auf seine moralischen Werte und Überzeugungen herausgefordert wird, desto mehr leiden wir mit ihm mit, sind mit hineingezogen in sein Dilemma.
Die hier erwähnten Bücher:
Claire Keegan: Kleine Dinge wie diese
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John Yorke: Into the Woods
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