Tagebuch eines Romans

Alles auf Anfang

Tagebuch eines Romans
von Larissa Boehning

4.10.20

Das Licht ist rosa mit einem Stich von Gelb. Es färbt die Luft. Die Sonne ist noch nicht über den Berg. Es ist so still, dass ich das Meer rauschen höre. Und ganz entfernt Tauben. Ich habe immer übers Außen erzählt, alles um mich herum beschrieben. Das Schreiben diente mir dazu, von mir selbst abzusehen. Jetzt geht es darum, bei mir innen anzufangen. Bei mir, bei uns. Der Text ist nur dazu da, das mit Worten zu fassen.

Wörter sind an sich etwas Tückisches, ich wollte fast sagen, was Grausames. Sie stehen zwischen mir und der Welt. Ich hab nur sie, und dabei sorgen sie dafür, dass ich nicht hinter sie komme. Wie ein Widerstand stehen sie parat und im Weg. Ich muss die Sprache ignorieren, um ein Buch zu schreiben.

Als hätte ich mein Wissen erst finden müssen, so fühlt es sich an. Habe mich, um mir selbst anfangen können zu glauben, vor Auswahlkomitees gestellt, die mein Wissen von Außen beurteilen. Aber das heißt immer noch nicht, dass ich mir traue. Ich höre das Lob, die anerkennenden Worte, aber da ist es wieder: Es sind nur Worte. Sie stehen zwischen der Welt und mir. Ich glaube, ich misstraue gerade nichts so sehr wie Wörtern, Worte, Sprache.

Vielleicht spüre ich mich zum ersten Mal in meinem Leben. Spüre, wer ich bin, was ich kann und was ich machen will. Es ist die Kraft der Entscheidung, und damit zu ihr, zu meiner Protagonistin zu gehen, sie zu sein, und das ganz andere Ende des Liedes zu spüren. Und damit endlich, ein Mal wirklich, diese ganze Geschichte zu erzählen.

Die Sicherheit eines Grundstücks: Dass ich von diesem Flecken Erde nicht vertrieben werden kann. Das Problem der Moderne: Zur Miete zu wohnen.

Vielleicht bin ich Schriftstellerin gewesen, habe Schrift auf eine Seite gestellt. Als Autorin geht es darum, eine Welt zu schaffen, die für andere da ist, in die sie eintauchen, in der sie Zeit verbringen können. Dem Vorhandenen, der Welt, wie wir sie wahrnehmen, eine dazu zu fügen.

Öffne zum ersten Mal einen frischen Pinienzapfen, mit der Axt (geht schwer), weil ich wissen will, wie die Pinienkerne darin aussehen. Langsam lösen sich die Augen, oder was das sind, voneinander. Dann kann ich das faserige Ding auseinander brechen. Es sind gar keine Kerne drin.

Die Baumstämme, die wir beim Bau der Hütte an die Kanten der Terrassen gelegt haben, damit die Kinder nicht beim Krabbeln runterfallen, sind bis auf einen schmalen Kern verschwunden. Der Kern: wie ein Rückgrat, wie ich mir die Wirbelsäule eines Wales vorstelle, mit abzweigenden Knochen zu den Flossen. Es sieht so aus, als wenn das der ursprüngliche Stamm wäre, der über die Jahre dick und rund geworden ist, und jetzt eben wieder abgemagert auf seinen offensichtlich haltbarsten Kern.

Das ganze Licht eines Tages mitbekommen zu haben: Wie lange die Sonne brauchte, über die Berge zu kommen, durch den Dunst, dann wanderte sie über den Kamm und dabei einmal um die Hütte, fiel durch die Kronen der Bäume und kam bis zur Terrasse, verließ sie wieder und zog sich zurück bis auf die gegenüberliegende Seite des Tals. Dort leuchtet sie noch. Warm und gelb, hell, wo auf meiner Seite schon kühler Schatten ist.

Ein Vogel fängt an zu meckern, unmittelbar neben dem Haus, als ich den Ofen anwerfe. Der Rauch aus dem Schornstein ist zu riechen, und mir kommt der Gedanke, dass der Vogel seine Artgenossen vor einem Waldbrand warnen will, durch sein Geschrei. Für diese Theorie spricht, dass er nachdem der Ofen eine halbe, dreiviertel Stunde läuft, nicht mehr zu hören ist. Aber wer weiß das schon, und ich versuche ja nur, uns Menschen zu verstehen, nicht die Vögel.

Die Motten fliegen von außen gegen die Fensterscheibe, als ich drinnen mit meiner Kopflampe stehe und leuchte. Sie erinnern mich aus irgendwelchen Gründen an Clowns in silberfarbenen, bodenlangen Mänteln, wie sie gegen die Scheibe springen und kurz stehen bleiben. Einmal blitzt ein stecknadelkopfgroßer Kopf auf, die haarfeinen Fühler, und schon ist die Motte wieder in der Dunkelheit verschwunden.

5.10.20

Wie bewusst mir ist, dass ich mich in der Einsamkeit, in der ich bin, nicht verletzten sollte. Jeder Handgriff, jeder Schritt etwas bewusster: Ich passe auf mich auf. Daraus ließe sich schließen, dass Einsamkeit eine erhöhte Wachsamkeit provoziert, und ich im Umkehrschluss zur Ruhe komme, mich sicherer fühle, wenn ich unter Menschen bin.

In der Nacht habe ich die Katze gehört, die schon nach dieser kurzen Zeit zur Hütte gekommen ist. Ich glaube, weil es so still ist – keine Autos, keine Flugzeuge, die sonst in großer Regelmäßigkeit über diese Seite der Insel fliegen –, lässt sich das kleinste Geräusch einordnen. Erst war sie am Mülleimer neben der Küchentür, die Plastiktüte raschelte. Dann ist sie über die Marmorplatte der offenen Küche spaziert. Später der Sprung auf die Dielen der Terrasse, eine zarte Vibration, die sich bis ins Haus fortsetzt.

Die Wildziegen wandern ganz auf der äußersten Kante der ausgewaschenen Steilküste entlang. Dann bleiben sie auf einem Felsvorsprung stehen und der Bock belastet mit den beiden vorderen Hufen die dünne, brüchige Kante aus Stein, um was Überhängendes zu fressen. Wie eine Galionsfigur, so ragt er übers Meer. Wie ein etwas anderer Odysseus, der alles gesehen hat, keine Angst kennt, nur Hunger.

6.10.20

Ich bemerke, wie schädlich das ‚Den-ganzen-Tag-Schreiben‘ ist, was ich immer praktiziert habe. Der Text wird dominant, die Buchstaben schieben sich zwischen die Geschichte und mich. Aber wie notwendig es ist, den ganzen Tag dranzubleiben, immer weiter drüber nachdenken zu können, egal, ob ich einschlafe, aufwache, die Hütte fege, abwasche, Stühle vom Schatten in die Sonne räume, spazieren gehe oder die Esel auf dem Nachbargrundstück suche, um ihnen Möhren zu geben.

Sprache ist das Tückischste der Welt, und ich bin ihr aufgesessen. Im Grunde ist der Text mein Feind.

7.10.20

Ich bin so okkupiert davon (immer gelernt), wie mein Wesen nach draußen ist, dass ich meistens gar nicht spüre, was ich fühle. Oder wenn, dann ist es mit Scham belegt, mit Vergessen, Nebel. Etwas zu fühlen heißt zu scheitern. Gefühle zu haben ist schlecht. Da öffnet sich eine Büchse der Pandora. Alles nie wieder einzufangen. Das willst du nicht wirklich (eine Stimme, die ich kenne), damit machst du wirklich niemandem eine Freude.

Und nun, wo es nur um Gefühle geht, ging, die letzten Tage, breitete sich diese gleißende Stille in mir aus, wie eine Salzwüste. Ein Ort, der zu kalt ist, um ihn zu betreten. Weiß, endlos, ohne Leben. Kann es sein, dass ich keine Gefühle habe? Dann wäre ich ja kein Mensch, beruhige ich mich.

Mein Zensor ist die Sprache. Roh, da, wo die Wut, die Kernschmelze, die Angst liegt, die in meiner Protagonistin steckt, da legt er sich drüber und breitet sein Leichentuch aus.

Bücher sind der Ort, an dem es nur um Gefühle geht. Geschichten sind der Ort, und sie habe ich immer gesucht. Weil ich eine Gefühlsreise machen will, eine Erfahrungsreise, die nur aus einem Weg hinein und hindurch durch diese Welt besteht. Dafür liebe ich Bücher. Der Plot ist mir meistens scheißegal. Er dient der Sache. Diese Gefühle zu erleben, dafür lese ich. Nicht schöne Sprache. Wenn es die auch noch gibt, gut, dann macht die ganze Sache noch mehr Spaß. Deshalb komme ich immer wieder zu Cormack McCarthys The Road zurück. Da geht beides in größter Klarheit, in poetischster Schönheit zusammen.

In schön geschriebenen Texten beweise ich mir immer wieder, was ich hübsches kann. Großartig, wie ich meinem Zensor diene.

Werfe die Bananenschale schlecht, sie landet im Gestrüpp an der Straße. Gehe hin, pflücke sie heraus (so sichtbar kann sie nicht bleiben) und werfe wieder. Sie zerfällt. Ein Stück prallt am Stein ab, die andere liegt auf dem Busch. Ich stelle mir vor, ich bin jemand, der eine Leiche zu entsorgen hat, und die zerfällt in Teile, die ich dann aufheben und erneut über den Abhang werfen muss. Ein Arm bleibt am Stein hängen und ich muss nach ihm greifen, ihn anfassen in seiner Labbrigkeit und weiter werfen.

Stolpere fast über die Schlange, die mitten auf dem Weg liegt. Sie hat die Farbe des Gerölls. Ich bleibe stehen, sie schlängelt sich weiter, und es wirkt, als sagte sie mir mit ihren eleganten s-förmigen Bewegungen: Du kriegst mich nicht. Du wirst mich nie kriegen.

Nacht, 8.10.20

Es ist so dunkel, als ich aufwache, so dunkel, ich sehe meine Hand vor den Augen nicht. Und gleichzeitig so still – kein Vogel, kein Wind, kein Nichts –, dass ich das Rauschen meines Blutes in den Ohren hören kann.

Und dann schlägt irgendwann die Kirchenglocke im Dorf vier Mal zur vollen Stunde und dann lauter noch vier Mal. Es ist vier Uhr nachts, und ich frage mich, was für ein wahnsinniger Mechanismus unserer Wahrnehmung das ist, es vorher nicht gehört zu haben, es kaum noch zu hören, genauso wie es den Menschen im Dorf ergehen muss, die viel näher dran sind als ich hier draußen, jede Viertelstunde ein Schlag, und das jeden Tag, jede Nacht, immer schon, durch alle Zeit. Würden sie es noch hören – würde sie es nachts aufwecken –, es wäre doch längst abgeschafft.

Die Kellnerin aus dem Dorf (die die Krise sehr hart treffen muss) begrüßt mich unten auf der Straße strahlend mit dem hier üblichen: Geht‘s gut? Va bien? Ich frage sie zurück, wie es ihr ginge? Das Wetter, sagt sie gut gelaunt, ist das nicht ein wunderbarer Tag?

Die hackedichten Jungs, die am Strand kifften und tranken, jagen mit ihren Mopeds den Berg hoch. Ich stelle mich extra an die Seite, aber der erste hält auf mich zu, als wäre ich eben der Fixpunkt, eine Leitplanke oder so, an der er sich orientieren kann. Es ist keine böse Absicht, sehe ich ihm an. Er will mich nicht erschrecken und schon gar nicht über den Haufen fahren. Er sitzt einfach auf seiner Maschine wie ein kleiner Junge auf einem zu schnellen Pferd, der nicht wirklich das Lenken gelernt hat, und im Zweifelsfalle auf den Richtungssinn seines Tieres angewiesen ist.

Die Fühler der grünen, handbreiten Heuschrecke, die auch Ähnlichkeit mit einer Gottesanbeterin hat, und die an der Fensterscheibe gelandet ist, bewegen sich unaufhörlich. Von nichts, keinem Klopfen am Glas oder dass ich sie versuche zu fotografieren, lässt sie sich irritieren. Nur die Fühler sind in Bewegung: feine Radioantennen. Und plötzlich fängt das Insekt an, sich in einem wiegenden Vor und Zurück zu bewegen, die Beinchen knicken ein wie beim Tanzen, Schunkeln, Boogie-Woogie, es sieht völlig bizarr aus. Als hörte es eine eigene Musik, über seine Weltraumantennen, und tanzt seinen eigenen Tanz dazu.

9.10.20

Die Pilze sprießen aus dem Boden. Hier: einer auf der Terrasse, jeden Tag schaut sein weißer Kopf etwas mehr aus der rötlichen Erde heraus. Es ist mir ein Rätsel, wie der Pilz, obwohl er doch aus so zerbrechlichem Schwamm ist, unbeschadet durch den steinigen Boden kommt. Ich kenne mich nicht aus mit Pilzen, aber der sieht ungenießbar aus. Was ist der Zweck von giftigen Pilzen? Wozu sind sie eigentlich da? Könnte man genauso fragen, was ist der Zweck von Corona?

In Palma spielt ein Mann Gitarre am Wasserbecken unterhalb der Kathedrale und singt spanische Chansons. Die Menschen sitzen weit auseinander, keine Touristen. Ich hatte vor einiger Zeit einen Vortrag über Resonanz gehalten, und hier ist sie über alle Theorie hinaus zu beobachten. Eine alte Frau dreht sich zu ihrem Mann im Rollstuhl um und fragt ihn, Matteo, welches Lied willst du hören? Die Sonne und der Schatten? Sie diskutiert mit dem Musiker kurz, dann schlägt er das Bein übers Knie, um seine Gitarre darauf abzustellen. Er fängt Sonne und Schatten an, Passanten, auch junge, bleiben stehen. Es ist wie ein geteiltes Gefühl, diese Melodie, eine Erinnerung daran, dass wir als Menschen aus gutem Grund die Musik, den Gesang, die Literatur erfunden haben, und diese Sehnsucht unter unseren Masken und in aller Distanz immer teilen.

10.10.20

Jede Nacht neuen Stunden Tiefschlaf. Heute die erste Nacht, in der ich träume, und die Bilder erinnere. Ich habe eine App erfunden, die ganz intuitiv funktioniert, ich sehe die Benutzeroberfläche vor mir. Ich wähle Menüpunkte aus, mehr wie in einem Spiel, aber ich weiß, es geht hierbei um eine ernste Angelegenheit. Förderungen. Geld. Steuerersparnis. So was in der Art. Ich bin stolz auf das, was ich da geschaffen habe. Meine Kollegen bauen ein Riesenkarnevalszug daneben, zur Einweihung der App. Betretbare Luftballons, Trampolins wie im Jumphouse, ein hohes Baugerüst, in dem sich etwas Geheimnisvolles verbirgt. Ich wünschte, ich könnte den Zusammenhang zwischen der App und dem Riesending verstehen. Aber er erschließt sich mir nicht.

Ich muss immer an Lady Diana denken, wenn ich draußen am Waschbecken abwasche. Abwaschen ist mein Requiem für sie. Warum? Weil ich mal in irgendeiner Zeitschrift hilfreiche Tipps von Lady Di zum Abwaschen gelesen habe: Immer die Gläser zuerst, alles, was sehr verschmutzt ist, draußen einweichen, und das Besteck zum Schluss. Ich halte an diesem Glauben fest, dass sie diese Tipps formuliert hat, und zwar aus ganz eigener Erfahrung.

11.10.20

Kliffhänger
Regentropfen fallen in absoluter Regelmäßigkeit aus dem Spalt in der Dachrinne. Ein hoher, schneller Takt. Dann einmal ein Stolpern, als hätte die Regenrinne sich verschluckt. Und plötzlich bricht das Tropfen ab, dafür setzt der Regen ein, und ich warte darauf, ob es weiter tropft oder ein Rinnsal aus dem Spalt läuft.

Wer erteilt mir die Erlaubnis? Niemand. Nur ich selbst. Diese Stimme in mir, für die ich erst so alt werden musste, um sie lauter zu hören, als die anderen, mächtigen Stimmen: Du darfst alles aussprechen. Du weißt Bescheid. Du brauchst keine Angst davor haben, vom Leben und vom Tod und von der Grausamkeit zwischen uns Menschen zu erzählen. So, wie du es fühlst und wie du endlich davon lesen willst.

12.10.20

Die kleine Stechpalme reckt zwei Hände mit ihren vielen Fingern in die Luft, als würde sie zum Himmel flehen. Und dann muss ich plötzlich an Manuel Neuer und seine Fußballhandschuh-Hände denken, wie die sich manchmal um einen in der Luft gefangenen Ball schließen, und schon sieht die Palme nicht mehr betend-verzweifelt aus, sondern sehr, sehr souverän.

Die Spinne klettert an ihrem eigenen Faden zurück bis zum Baum. Das Seil ist zu einem kleinen Knäul verwirbelt, als sie unter dem Blatt ankommt. Dass ich von solchen Sachen keine Ahnung habe: Kann sie aus dem Knäul jetzt ein neues Hochseil stricken? Wie war es ihr möglich, ohne festes Ende an der unteren Seite ihres Balancefadens, so zielstrebig durch die Luft zu klettern (und beim Wind nicht weggeweht zu werden)?

Aufrichtig zu sein, ist meine Verpflichtung an mich selbst. Auf das in mir aufzupassen, das mich in den Nebel führt, das gar nicht mag, dass ich an diese Stellen gehe. Es sind diese zwei Kräfte in mir. Und es sind genau die zwei Kräfte, die in meiner Hauptfigur gegeneinander kämpfen.

13.10.20

Meine Wertschätzung für die wilde Katze, wie zielstrebig sie nachts (ich habe es schon gehört) die Thunfischdose aus dem Mülleimer geklaubt hat. Es ist morgens, als ich nachschaue, gar nicht viel verstreut, nur die Tüte geöffnet und die Dose herausgeholt, die sauber ausgeleckt einen halben Meter daneben steht.

Ich merke, wie mich das beschäftigt, diese vollendete Show, als bei der Wahlkampfveranstaltung die Anhänger Trumps: We love you, we love you rufen. Eigentlich eine zu gute Show, um wahr zu sein; kurz denke ich: Vielleicht werden sie für ihr Rufen und Stampfen wie früher die Klageweiber bezahlt? Aber eher ist es echt, denn dafür lieben sie ihren Präsidenten ja, dass er Shows kreiert, die too good too be true sein können. Nur, als er plötzlich zurückruft: Ihr werdet mich bald noch viel mehr lieben!, könnte ich mir vorstellen, dass der narzisstische Kreislauf kurz eine Störung erfährt. Dass einer seiner Verehrer spürt, wie Trump einen Satz lang sein Drehbuch verliert, denn eigentlich hätte er doch: I love you, I love you, too zurückrufen müssen. Aber andererseits bedient er diese Sehnsucht seiner Fans auch wieder durch die Beteuerung unendlicher Küsse, die er ihnen geben kann (und wird), weil er ja jetzt immun sei. Aber könnte nicht auch hier der eingefleischte Co-Narzisst im Script hängen bleiben, mit dem Gefühl, oh, great, er würde mich küssen, aber dann bekäme ich ja vielleicht Corona? Hoffnung ist der Motor dieser Gedankenspiele. Hoffnung, dass die Menschen aus ihrer Verblendung aufwachen und die immer einseitigen narzisstischen Kräfte am Werk sehen.

14.10.20

Kann nie besser als gerade verstehen, dass wir Menschen das Feuer gefunden haben, das Licht, Elektrizität, Städte, das Handy. Die Dunkelheit hier in den Bergen, im Wald ist umfassend, und anstrengend. Nicht in der Hütte, nur außen ist sie übermächtig, macht mir meine Kleinheit bewusst. Wie müssen sich Menschen vor diesen ganzen Erfindungen gefühlt haben? Kein Wunder, dass sie Götter am Wirken sahen, und sie zu ihrer Unterstützung anriefen.

19.10.20

Hatte diesen Traum: Ich gehe auf Dieter Bohlen zu, der allein am Ende einer Einkaufsstraße steht und sich etwas nervös umsieht, warum ihn niemand bemerkt. Ich sehe ihn und weiß gleichzeitig, dass ich knapp an ihm vorbeigehen werde, weil das mein Weg ist. Kurz darauf bin ich (in einer ähnlichen Einkaufsstraße) eine Drogenfahnderin, die ihre Klienten ganz gut kennt, und dann eine Vertrauensperson, die für jemand anderen eine mit wirklich wichtigen, wertvollen Sachen gefüllte Tasche übergeben soll. Aber Dieter Bohlen steht weiter an seinem Platz und schaut sich, in zunehmender Verlorenheit, nach allen anderen um.
Als ich aufwache, und die Bilder noch ganz präsent sind, ist meine bewusste Assoziation: Es geht um Unterhaltung. Bohlen, als der Inbegriff von Unterhaltung – ich gehe auf ihn zu. Es machte mir im Traum sehr großen Spaß, dies zu tun, ich war gar nicht ängstlich, ich spürte meine Kraft, auch darin, mich nicht an ihm zu orientieren, sondern weiter meinen Weg zu gehen.
In die Richtung, die mir Spaß macht. Das zu schreiben, was mich unterhält. Einfach alles zu erzählen, was ich erzählen will, im – formal – Unterhaltungsroman. Die Fahnderin sein, die ihre Leute kennt. In mich vertrauen, dass ich mir die Tasche schon bringen werde. Mich selbst unterhalten, während ich das Buch schreibe.

20.10.20

Schwanken: Der Druck, die Angst, die ich spüre. Die rasende Unsicherheit. Alle Ideen wie ausradiert. Disconnected. Diese Kräfte sind brutale antagonistische Kräfte. Ich drohe ihnen immer wieder zu erliegen. Sie sind aus dem Nichts da, völlig präsent. Aber dann regt sich neuerdings dieser Widerstand in mir, wie eine Truppe Revoluzzer: Du wirst dir deine Lebenskraft nicht rauben und zerstören lassen. Du lässt dir das ja wohl nicht von diesen Zerstörern diktieren, was du denkst und fühlst (doch, leider immer wieder doch). Aber du siehst sie, du spürst, du bemerkst, was ihre Taktik ist, und deshalb hast du sie in der Hand: münze sie um. Sie sind Teil der Geschichte. Sie sind die brutalen Kräfte am Werk. Sie sind, warum es wirklich um Leben und Tod geht. Die Entscheidung, Hinzusehen, Aufzubrechen oder im Gefängnis zu verrotten, in einem dunklen Loch festzustecken, sich schuldig zu fühlen für etwas, das man nicht getan hat, und nie mehr das Tageslicht zu entdecken.

21.10.20

Hole insgesamt 100 Liter Wasser von der Quelle. Treffe dort französische Wanderer, die ihre Aluminiumflaschen füllen. Ihre Neugier steht ihnen ins Gesicht geschrieben, aber sie trauen sich nicht zu fragen. Wir radebrechen auf Spanisch über die gute Wasserqualität. Als sie weitergehen, bin ich mir sicher, dass sie überlegen, wofür eine Frau, offensichtlich keine Einheimische, so viel Wasser holt. Hat sie ganz viele Tiere? (Danach sieht sie nicht aus). Ist sie eine sparsame Deutsche, die damit ihre Begonien gießt? (Schon eher und ihr deutscher Akzent). Ich glaube nicht, dass sie ahnen, dass ich damit dusche, koche, abwasche, und dass 100 Liter erstaunlich lange reichen werden, wahrscheinlich bis zum Ende meiner Zeit hier.

22.10.20

Eine Fledermaus fliegt durch die schon helle Morgendämmerung. Es wirkt wie: zu spät nach Hause gekommen und nun etwas hektisch. Sie muss ihr dunkles Plätzchen finden, in dem sie den Tag verbringt (wo?). Das frage ich mich die nächsten Minuten. Bis ich irgendwie stolz bemerke: die Dose mit dem Katzenfutter ist schon wieder verschwunden.

Geschlossene Rollenläden. Geschäft dauerhaft aufgegeben. Ein paar durchschnittliche Hausfrauen sitzen an einer Ecke auf wackeligen Klappstühlen herum, am Fuß einer schmalen, feuchten Gasse. Bis ich kapiere, worauf sie hier warten, dauert es einen Moment. Eine Frau mit einer wattierten weißen Handtasche kommt aus dem Haus und stellt sich wieder etwas abseits zu ihnen in die Schlange. Mittagspause, Straßenstrich in Palma. Hier, in diesen Seitengassen, in die ich mich auf der Suche nach einem Copyshop verlaufe (der auch aufgeben musste), ist die wirtschaftliche Depression spürbar. Auf den Hauptstraßen lassen sich Spanier eines nicht nehmen, weiterhin in Cafés zu sitzen, gut zu essen und zu trinken. Da ist es nur angenehm, dass nicht mehr so viele Touristen die Plätze verstopfen. Aber das Gefühl, das mich in den Seitenstraßen plötzlich befällt, ist mehr die Ahnung der Brutalität des Niedergangs, der – wenn das noch lange andauert – kommen wird.

23.10.20

Gott, wie ich mir wünschte, diese Stille aus Flügelschlägen der Tauben in den Bäumen, fernem Geklapper der Schafsglocken und dem Rauschen des Windes ganz oben in den Kronen der Pinien immer zu haben. Möge die Zeit stehen bleiben! Jetzt! Bliebe sie stehen, denke ich dann, wäre ich tot. Da ist es ganz still. Aber es wäre einfach schön, doch, das kann ich sagen nach der Zeit hier in der Stille, wenn es mehr Stille mitten im Leben gäbe, wenn sie da sein könnte, während man lebendig ist. Einfach da, um mich herum, und ganz lebendig.

Heute bin ich den ersten Tag meiner Verlängerung hier. Der noch mal angehängten, geschenkten Zeit. Und heute fühlt sich das Ding geknackt an. Irgendwie geknackt. Als wäre was passiert. Als könnte es sich mir nicht mehr entziehen. Als hätte ich die Oberhand. Ich weiß nicht, ob ich diesem fragilen Wesen gleich wieder das Genick breche, das weiß ich nicht. Ich kann nur meinem Gefühl folgen, das sich als Aufregung zeigt, eine Art Rauschen in meinem Inneren, als wäre in meinem Körper kein Blut, sondern Wasser mit Kohlensäure.

27.10.20

Meine letzten Tage hier brechen an. Spürte noch nie so deutlich die zwei Seelen in meiner Brust. Die, die nie mehr hier weggehen möchte, die einfach für immer hier bleiben möchte, als Eremit im Wald leben, im Rhythmus des Tageslichts, in dieser Luft, im Licht, eine Runde ums Dorf ist das Weiteste, wie sich die Eremitin vom Haus entfernt. An manchen Nachmittagen in der Sonne am Meer sitzen und das Salzwasser auf den Lippen schmecken.
Und dann die andere, die so eine Sehnsucht nach Nähe hat, nach den Menschen, zu denen sie gehört (nach meinem Mann und meinen Kindern). Die bei ihnen sein möchte, sie spüren, mit ihnen reden, lachen, zusammensein möchte. Diese Seite in mir hat interessanterweise gar nicht wirklich ein Bedürfnis nach der Wohnung, Wärme, einer Dusche und Lichtschaltern, wie ich zwischendurch mal gedacht hatte. Sondern es geht nur um meine Familie, die Menschen, zu denen ich gehöre.

Einsamkeit kann anziehend und wohltuend sein, sie hat meine Stimme in mir lauter werden lassen. Und genauso ist sie fordernd, anstrengend, erschöpfend und trägt etwas in sich, das mich unsicher werden lässt, weil ich mich ständig nur auf mein Urteil verlassen muss. Weil ich kein Korrektiv habe, keine andere Sichtweise, als meine eigene. Darin lauert eine Gefahr, eine Gefahr von innen sozusagen, die in diesem Maße von außen im Wald, in der Natur, in aller Abgeschiedenheit dieser Hütte gar nicht gegeben ist.

30.10.20

Sitze ganz still auf der Terrasse, so, dass sie Schafe, die den Hügel runterkommen mich nicht bemerken. Auf einmal sind sie da und kommen ganz nah ran. Ihre Glocken läuten, bimmeln, wie ein lautes Glasperlenspiel. Ich sitze einen Augenblick mitten in diesem Sound und in der Herde Schafe. So muss sich ein Schäfer fühlen, dem die Tiere vertrauen. Ein Schaf, das, was am nächsten kommt, schaut mich an. Drei, vier Sekunden, starr ohne ein Blinzeln, dann entscheidet es sich wohl, dass ich keine Gefahr darstelle und geht weiter grasend am Rand der Terrasse entlang. Die Lämmer sind viel neugieriger als die älteren Tiere. Sie stehen auf der Steinkante der Terrassenmauern und schauen über den Hang wie forsche Kapitäne. Von weiter her fängt ein Schaf zu blöken an. Laut, fordernd, es meckert richtig. Die ganze Herde – bis auf die Lämmer – fangen auch an zu blöken. Sie kommunizieren miteinander, über den Hang hinweg. Ein Schaf dazwischen hat eine ganz tiefe Stimme, grummelt mehr. Eines blökt wie ein schlechtgelaunter Berliner. Das Leittier, das gerufen hat, holt alle wieder zusammen. Sie laufen zurück auf die andere Terrasse. Nur bleiben wieder die Lämmer zurück, die ihre Expedition über den Hang nicht aufgeben wollen, eindeutig nicht. Richtig widerwillig zuckeln sie irgendwann los, nicht ohne noch mal über die Steinmauer gesprungen zu sein, just for fun.

31.10.20

Mir ist richtig schwer ums Herz, als ich alles einräume, draußen aufräume, meine Sachen zum Auto trage, das Haus schließe, ein letztes Mal an der Terrasse stehe und den Ort anschaue. Es war eine verändernde Erfahrung. Es hat mich verändert. Wie ich hier ankam und wie ich jetzt abreise. Was in wenigen Wochen, knapp vier, passieren kann. Ich bin nicht sicher, in der kreativen Arbeit wird man das wohl nie sein. Aber ich habe ein Gefühl von Tiefe, dass ich da etwas durchdrungen habe, was ich vorher noch nie geschafft habe. Dass da etwas mit Gehalt ist, eine Materie, die Substanz hat, obwohl es nicht literarischer Text ist, sondern ‚nur‘ ein Handlungsablauf. Aber gerade das macht die Tiefe aus, die ich nie im literarischen Text erzeugen konnte. Er blieb darüber schwebend, ein Oberflächen-Gerüst, das mich schon nach kurzer Zeit an seine Fragilität erinnerte, und wie einsturzgefährdet es ist. Während ich immer diese luftigen Gerüste geschaffen habe, war das jetzt die Arbeit an einem Fundament. Und darauf kann jetzt ein Haus entstehen. Es ist gar nicht mehr so schwer.

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